Una vulnerabilidad en tu camino. Las Tesis und die Frage nach der Vulnerabilität

Von Miedya Mahmod

Dass die emeritierte Anthropologin Rita Laura Segato und die Philosophin Judith Butler einander bereits begegnet sein müssen, davon ist spätestens seit 2018 fest auszugehen, als sie vor rund 2500 Menschen auf dem Platz neben dem Centre de Cultura Contemporània Barcelona die Bienal de Pensamiento, eine Biennale des Denkens, eröffneten.[i] Beide Frauen sind unlängstunlängst im Mainstream der Gender Studies angekommen, besonders Segato ist innerhalb des letzten Jahrzehnts zu einer führenden feministischen Stimme und Intellektuellen Südamerikas avanciert. So ist sie 2019 beispielsweise zur Buchmesse Buenos Aires geladen worden, um die Eröffnungsrede zu halten— eine Rede, die für viele zugleich eine „vielbeachtete Intervention“[ii] darstellte und nicht unverdientermaßen unter dem Titel „Die Kraft des Ungehorsams“ als Text veröffentlicht wurde.[iii]

Interventionistisch gab sich 2019 auch Las Tesis, angefangen im Rahmen des sog. estallido social in Chile, übersetzt in etwa der „soziale Ausbruch“, der bezeichnenderweise von einigen Seiten „soziale Krise“, von anderen „Frühling Chiles“ genannt wird. Gemeint sind in beiden Fällen die großen Demonstrationen, die sich von der Hauptstadt Santiago aus über das ganze Land erstreckten, von Oktober 2019 bis Februar 2020 anhielten, und 8.800 Verhaftungen wie auch 34 Todesopfer, laut der chilenischen Menschenrechtsorganisation INDH teils durch Staatsgewalt verursacht, forderten.[iv]

Das feministische Kollektiv Las Tesis hat jedenfalls im Zuge dieser nationalen Unruhen im November 2019 in ihrer Heimatstadt Valparaíso, quasi die Uraufführung einer global (viral) gehenden Performance hingelegt. Mit „Un violador en tu camino“ („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“)  boten sie eine partizipative, performative Protestform an, deren Choreographie und Text alsbald in Santiago von 2000 Menschen performt wurde, Social Media-Kanäle flutete und daraufhin in Metropolen auf der ganzen Welt nachvollzogen wurde. LAS TESIS haben sich, wie der Name bereits vermuten lässt, mit den Thesen feministischer Theoretiker*innen auseinandergesetzt und versuchen in ihrem Schaffen künstlerische Wege zu finden, diese zu kommunizieren. So ist der Text von „Un violador en tu camino“ beeinflusst von Rita Sergatos Arbeit, deren Forschungsfelder u.a. das Verhältnis von Gender, Race und Kolonialismus zueinander, sowie Gewalt gegen Frauen und weitere Formen geschlechterspezifischer Gewalt sind. Nach Sergato sei Vergewaltigung durch Männer weniger Ausdruck einer unkontrollierten, bedürftigen Libido als „ein Akt der Macht, der Herrschaft, es ist ein politischer Akt. Eine Handlung, die Frauen durch die Beschlagnahme ihrer Privatsphäre aneignet, kontrolliert und reduziert“ und das Patriarchat „eine ursprünglich politische Ordnung, die auf der Kontrolle, Disziplin und Unterdrückung von Frauen durch sehr unterschiedliche Erzählungen beruht, verstreut auf dem Planeten“. [v]

Die Stärke der Performance ergibt sich jedoch nicht nur aus dem Sergato-basierten Text und der Referenz auf den alten Slogan „Un amigo en tu camino“ („Ein Freund auf deinem Weg“) der chilenischen Polizei also der ausführenden Staatsgewalt und somit einem wichtigen Teil der politischen Ordnung.

Auch die Choreographie trägt ihren Teil dazu bei,[vi] indem sie eine körperliche Präsenz voraussetzt, diese körperliche Präsenz wiederum einen Raum und dieser Raum war bei allen Interpretationen – das Lied wurde kontextabhängig ins Englische, Deutsche, Portugiesische, auf Hindi und in weitere Sprachen übersetzt – ein öffentlicher Raum, also Straßen und Plätze städtischer Infrastrukturen. Womit wieder am Anfang angeschlossen werden kann, wenn die Performance als Medium der Begegnung gedacht wird: Sergato trifft Butler und das über Las Tesis‘ Arbeit. Sergato erklärt sexualisierte Gewalt am Körper der Frau zur politischen Angelegenheit und diese geht oft einher mit einem buchstäblichen Eindringen in diesen Körper, Butler schreibt: „Wenn wir auf der Straße sind, dann weil wir Körper sind, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind, um stehen und uns bewegen zu können und um ein Leben von Belang führen zu können“.[vii] Körper sind für Butler relational, sie sind abhängig von bestimmten Bedingungen wie eben z.B. Infrastrukturen und ein Leben von Belang bedeutet in Butlers „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ auch: die Möglichkeit eine Stimme zu haben, zu erscheinen, politisches Subjekt sein, als Versammlung aufzutreten. Versammlungen haben Butler nach etwas Performatives an sich, insofern sie politische Forderungen stellen und gleichzeitig inszenieren. Was dabei getan und gesagt wird muss dabei nicht zwingend übereinstimmen, aber hängt zusammen. Performativität dient Versammlungen „als chiasmische Beziehung zwischen Körper und Sprache“.[viii] Butler scheint überzeugt, dass Ungleichheiten innerhalb „[des] Menschlichen“, einer Formulierung, die sie nicht aus einer humanistischen Redetradition zu lösen vermag, an dieser Stelle, stets Bedingungen unterliegen, wie der Körper stets Bedingungen unterliegt, und beide teilen die Bedingung der Infrastruktur. Mobilität, also das sich In-Infrastrukturen-Bewegen, ist einerseits Voraussetzung und andererseits Ziel von Akten der Lebbarkeit. Die Relationalität des Körpers bedeutet auch ein Abhängigsein von diesen Voraussetzungen, aber jene Voraussetzungen zu verändern, dass wiederum ist ein politischer Akt, für den es Körper braucht, die auf die Straße gehen oder anders geartet koalitionär werden. Gleichzeitig spricht Butler sich im selbigen Werk und Kapitel gegen ein Verständnis von Demokratie als „das Ereignis der wogenden Menge“ aus. Versammlungen und ihre Forderungen können unter Umständen demokratisch sein, in denen es eine Opposition gegen Ungleichheiten, gegen Prekarisierung und gegen autoritäre und sekuristische Kontrollformen gibt, die unterdrückend agieren.[ix] Die Situationen müssten im Kontext bewertet werden. In diesem Falle kann aber wohl deutlich von Las Tesis‘ Performance und ihren Folgeperformances als demokratische Handlung des Widerstandes gesprochen werden. Zum einen haben die agierenden Frauen und Queers, insbesondere Südamerikas (oder auch der Türkei[x]), sich in Öffentlichkeiten exponiert, die z.T. von offen frauen- und queerfeindlichen Regierenden gestaltet werden, wie z.B. dem brasilianischen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro oder dem Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdogan. Zum anderen könnte man auch argumentieren, dass mit dem Patriarchat als politische Ordnung (vgl. Segato), eine Versammlung von Frauen und Queers, die strukturelle Ungerechtigkeiten und dadurch verursachtes individuelles Leid erfahren (am und im Körper) und beklagen, in jedem Falle höchst politisch ist. Butler betont die Zweigliedrigkeit des Begriffs der Öffentlichkeit, der einerseits Konkreta wie Straßen, Verkehrsnetz, Einrichtungen, sprich infrastrukturelle Elemente, andererseits im Arendtschen Sinne auch das Abstraktum eines politischen Raumes bedeutet. Daneben ist für Butler ein tiefergehendes Verständnis der Performance als politisch-künstlerische Intervention mit disruptivem Potential das Konzept der Vulnerabilität von Bedeutung.

 „Vulnerability“ mit Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit allein zu übersetzen wird dem Umfang des Begriffs an dieser Stelle durch negativ geprägte Konnotationen der Schwäche, Beschneidung und Bedürftigkeit wohl wenig gerecht. Wenn Mobilisierung von Gruppen mit einem Erscheinen in der Öffentlichkeit einhergeht und diese Öffentlichkeit nicht nur als eine politisch-abstrakte, sondern auch eine (infra)strukturell-konkrete gedacht werden muss, stellt sich unmittelbar die Frage, wer oder was sich innerhalb dieser Strukturen überhaupt mobilisieren kann bzw. wem die Strukturen zugänglich sind. Unter welchen Bedingungen (s.o. Relationalität des Körpers) oder auch Gefahren bewegen sie sich? Dass auf eine bestimmte Weise kategorisierte Körper, in diesem Fall als weiblich oder queer gelesene, einer größeren Gefahr im öffentlichen Raum ausgesetzt sind als männlich gelesene Körper, ist für die meisten feministischen Theoretiker*innen Konsens. Der kontextabhängige Grad an Gefahr – das meint: Nicht nur Raum, sondern auch Zeit, politisches System, im Raum dominierende Race und Class oder eine erkennbare weitere Milieuzugehörigkeit könnten theoretisch Einflussfaktoren für die Größe / Art der Gefahr sein. Wobei „Raum“ und seine Beschaffenheit natürlich auch als Zusammenspiel all dieser Faktoren verstanden werden kann, was sich innerhalb dieses Beitrages auch anbietet – ist ein konstitutiver Teil der Vulnerabilität. Vulnerabilität ist also ein Modus von Relationalität und keine fixe ontologische Zuschreibung, die Unterschiede zwischen Lebewesen rechtfertigen würde. Und genau dies, Vulnerabilität als Modus der Relationalität, bringt uns zurück zu Las Tesis und der Performance „El violador en tu camino“. Öffentliche Plätze im Patriarchat, dass eine politische Ordnung und für Gruppen wie Frauen und Queers ein strukturelles Gefährdetsein bedeutet, sind Plätze des Versagens der Forderung danach, dass alle Menschen gleichberechtigt dazu sein mögen eine Stimme zu haben, zu erscheinen, politisches Subjekt sein, als Versammlung aufzutreten. Teilnehmende des Protests und damit Vertreter*innen der Anliegen, die sich unter „El violador en tu camino“ körperlich und verbal versammeln, exponieren explizit genau diese Vulnerabilität. Mobilisieren also das, was ihnen genau diese Form der Mobilisierung erschwert oder gar unterbindet. Vulnerabilität mit einem gott- oder naturgegebenen Zustand von Körpern zu verwechseln wäre fatal, aber war lange Zeit und ist oft noch, was in der Praxis geschieht. Nicht umsonst beinhaltet der Sprechgesang der Protestierenden ein Zitat der offiziellen Hymne der Polizei.

Duerme tranquila, niña inocente, sin preocuparte del bandolero,
que por tu sueño dulce y sonriente
vela tu amante carabinero.“

Zu Deutsch:

„Schlafe in Ruhe unschuldiges Mädchen, sorge dich nicht um den Banditen, Schlafe in Ruhe unschuldiges Mädchen, sorge dich nicht um den Banditen, dein Freund, der Polizist, wacht über deinen süßen und seligen Schlaf.“

Vulnerabilität von Personen wird dabei als Grund für paternalistische Handlungen genutzt. Dies zeigt nicht nur das Risiko auf, mit dem der Gebrauch der Worte Vulnerabilität, gerade als Verwundbarkeit oder Verletzlichkeit übersetzt, einhergeht, sondern bietet in diesem Fall sogar Anlass zu Zynismus, denn die Unruhe, mit der ein „unschuldiges Mädchen“ und Andere von geschlechtsspezifischer Gewalt Bedrohte / Betroffene leben müssen, kommt eben aus gerade jenen Reihen, deren Aufgabe es eigentlich ist, Lebbarkeit für alle zu sichern: „los pacos, los jueces, el Estado, el presidente“.

Die Tatsache, dass Las Tesis‘ Performance darauf ausgelegt ist, in von diesen Institutionen, politischen Strukturen und Mächten durchzogenen Räumen, sozusagen für die sich versammelnde Gruppe potentiell verletzenden Räumen, durchgeführt zu werden, kann als äußerst gelungene Nutzung des konstruktiven Potentials, das eine Dimension der Vulnerabilität auch mit sich bringt, betrachtet werden. Vulnerabilität des Körpers muss nicht zwangsläufig Passivität des Körpers bedeuten, im Gegenteil: die Ereignisse rund um Las Tesis, deren Strategie weltweit Anklang fand und international Positionierungen von Politiker*innen mit sich brachte, beweisen, dass das Konzept der Vulnerabilität auch für die Vulnerabel-Gemachten arbeiten kann. Das bedeutet hier konkret: Paternalismus, der dem Ziel gesicherter Lebbarkeit eher im Weg steht als dazu zu verhelfen, anklagen, Strukturen nicht als gegeben, sondern als gestaltet aufdecken und durch die körperliche Präsenz auf der Straße die eigene Vulnerabilität ausstellen und somit Aufmerksamkeit auf die Bedingungen jener lenken, damit diese verändert werden können.

Nichts anderes, eine Veränderung der Bedingungen des Frauseins, Queerseins, ist es schließlich, wenn zu Zehntausenden skandiert wird:

„El patriarcado es un juez
que nos juzga por nacer,
y nuestro castigo
es la violencia que no ves.“

Frei übersetzt:

„Das Patriarchat ist ein Richter
Der uns bei Geburt verurteilt,
und unsere Bestrafung,
das ist die Gewalt, die du nicht siehst.“

Redaktion: Kara Handgraaf / Sara Hinderhofer


[i] Barranco, Justo: „La revolución no la harán los barbudos.“ 16.10.18. La Vanguardia. https://www.lavanguardia.com/cultura/20181016/452381889945/bienal-de-pensamiento-rita-segato-judith-butler.html, Abruf am 20.09.2020.

[ii] Dilger, Gerhard: 05.2019, https://www.rosalux.de/publikation/id/40778/die-kraft-des-ungehorsams/, Abruf am 20.09.2020

[iii] Segato, Rita Laura: “Die Kraft des Ungehorsams“, 07.2019, https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Ausland/Lateinamerika/discursoRitaSegatoSinCortes.pdf, Abruf am 20.09.2020

[iv] vgl. dazu Sophia Boddenbergs Berichterstattung für die taz, taz.de, DER SPIEGEL und Spiegel online.

[v] Pichel, Mar: Rita Segato, la feminista cuyas tesis inspiraron ‚Un violador en tu camino‘. 11.12.19. BBC Mundo. British Broadcasting Corporation. https://www.bbc.com/mundo/noticias-50735010. Abruf am 20.09.2020

[vi] Anleitung, Übersetzungen, Aufzeichnungen kursieren frei im Netz u.a. auf http://www.onebillionrising.de/el-violador-eres-tu-der-vergewaltiger-bist-du/

[vii] Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin 2016. Suhrkamp. S.182

[viii] Ebd. S. 181

[ix] Ebd. S 177f

[x] Vgl. „Turkey’s women lawmakers stage Las Tesis ‘rapist is you’ protest”, 15.12.2019, https://www.dw.com/en/turkeys-women-lawmakers-stage-las-tesis-rapist-is-you-protest/a-51684425, Abruf am 20.09.2020

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